Offener Brief an Landes-Wirtschaftsministerin Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut

Der Vorstand des Tübinger Arbeitslosen-Treffs (TAT) widerspricht in einem offenen Brief der Arbeitsministerin des Landes Baden-Württemberg und ihren Forderungen zum Sanktionsrecht im Rahmen der Grundsicherung für erwerbslose Menschen. Zusammen mit ihren CDU- und CSU-Kolleg*innen aus den Bundesländern Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen hat die Ministerin gefordert, gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts Sanktionen bis hin zu einer vollständigen Leitungskürzung beizubehalten, sofern Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II gegen Auflagen der Jobcenter verstoßen.

Mit seiner Entscheidung vom 5. November 2019 hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass das bis dahin geltende Sanktionsrecht im Sozialgesetzbuch II verfassungswidrig ist. Es hat dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, verfassungskonforme neue Regelungen zu entwickeln und dabei die Möglichkeit von Leistungskürzungen dem Umfang und der Zeit nach deutlich beschränkt. Dass die Landesministerin dieses Urteil zu umgehen sucht und Leistungskürzungen über das vom Gericht zugestandene Maß fordert, kritisiert der Tübinger Arbeitslosen-Treff. „Karlsruhe hat eindeutig gesprochen: Die Grundsicherung ist eine Frage der Menschenwürde“, betont Peter Ott vom Vorstand des TAT. „Bei der gesetzlichen Neuregelung muss der verfassungsmäßige Anspruch aller Erwerbslosen auf eine existenzsichernde Grundsicherung und damit deren Recht auf ein menschenwürdiges Leben umgesetzt werden.“ Nicht gelten lässt Ott die Behauptung, der angedrohte Leistungsentzug würde nur sehr wenige Menschen treffen. „Die Bedrohung durch existenzgefährdende Sanktionen betrifft nicht nur diejenigen, die tatsächlich eine Sanktion erhalten. Als permanente Drohung im Hintergrund ängstigt sie auch all diejenigen, die in irgendeiner Form Leistungen vom Jobcenter erhalten. Für sie besteht permanente Gefahr. Dauernd wird ihnen gezeigt, dass ihre Lebensverhältnisse unsicher und nicht selbstverständlich sind.

Der Arbeitslosen-Treff sieht die Ursachen für tatsächliches oder vermeintliches Fehlverhalten von SGB II-Leistungsbezieher*innen vor allem in schlechter Beratung durch die Jobcenter und in schwierigen Lebensverhältnissen der Betroffenen. „Gerade in einer ohnehin schwierigen Lage dürften Sanktionen eher noch zu einer Verschärfung bestehender Probleme führen, als dass es zu einer erfolgreichen Vermittlung in Arbeit kommt“, berichtet Fabian Everding, Sozialberater beim Tübinger Arbeitslosen-Treff, aus den Erfahrungen der Beratungspraxis. „Leistungsentzug macht Arbeitsförderung niemals besser, sondern manchmal sogar aussichtslos.“ Nach Überzeugung des TAT funktioniert Beschäftigungsförderung nur auf Grundlage von Respekt und Freiwilligkeit. Soweit die Jobcenter mit Anreizstrukturen arbeiten sollen, kann sich der TAT positive Anreize vorstellen, also Belohnungen für Bemühungen der Betroffenen, nicht aber Bestrafungen durch Sanktionen.

Vor dem Hintergrund dieser Bedenken fordert der Vorstand des Tübinger Arbeitslosen-Treffs die Ministerin auf, sich für eine gesetzliche Neuregelung des SGB II einzusetzen, die dem Geist des vom Verfassungsgericht gefällten Urteils entspricht und die auch dem verfassungsmäßigen Anspruch aller Erwerbslosen auf eine existenzsichernde Grundsicherung Rechnung trägt. Wir, so wie auch die anderen Initiativen für und von Erwerbslosen in Baden-Württemberg, sind gerne bereit dafür unsere Erfahrungen mit einzubringen, so der Tübinger Arbeitslosen-Treff zum Abschluss seines offenen Briefes.

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